„Neoliberalismus“ – ein umkämpfter Begriff
Vorbemerkung:
Unter der Rubrik „Die geistige Machete“ versuche ich einen Beitrag zur Klarheit und Präzision in der Verwendung aktueller Begriffe zu leisten
In meinem privaten Umfeld gibt es ein ganz weites Spektrum politischer Meinungen und das ist auch gut so. Solange der Boden des Grundgesetzes nicht verlassen wird, muss jede Position erlaubt sein. Dazu gehören auch klar „linke“ und klar „rechte“ Positionen. Hier sollten wir alle Voltaire folgen:
„Es ist klar, dass jeder, der einen Menschen, seinen Bruder, wegen dessen abweichender Meinung verfolgt, eine erbärmliche Kreatur ist.“
Ein guter Freund, ein überzeugter Linker, greift meine sicherlich stark ökonomisch geprägten Positionen schon einmal als „neoliberal“ an. Und sieht meine Profession, die Volkswirtschaftslehre, als nicht „objektiv“ an, sondern „ungerechten“ gesellschaftlichen Verhältnissen einen Überbau bietetend. Da er aber die Volkswirtschaftslehre in diesem Sinne als nicht „objektiv“ betrachtet, zieht er Diskussionen über eigentlich ökonomische Themen auf die politische Ebene und beraubt sich damit der Chance, wirklich jemals etwas über VWL zu verstehen. Nun, das sieht er natürlich ganz anders 🙂
Eine uralte, aber stets aktuelle Kritik. Letztlich steht sie, oft unbewusst und nicht erkannt, im Geiste der zweifellos auf den ersten Blick hocheleganten marxistischen Theorie von „Basis und Überbau“, der zufolge es in einem kapitalistischen System u.a. eben keine objektive Wirtschaftslehre geben kann, sondern nur eine pro-kapitalistische.
Aber gemäß marxistischer Lehre eben auch in jedem anderen System und deshalb war es logisch, dass in den früheren „sozialistischen“ Ländern deren Wirtschaftslehre eben „sozialistisch“ war – passend zur ökonomischen Basis des „Volkseigentums“.
Aber ist es so einfach? Nun, das ist ein riesiges Thema.
Aus meiner Sicht ist die Volkswirtschaftslehre eine Wissenschaft wie jede andere auch: natürlich von letztlich subjektiv denkenden Menschen gemacht, aber auf der Suche nach realen Gesetzmäßigkeiten und damit im Rahmen unser menschlichen Beschränkungen „objektiv“.
Und es sind genau all jene eklatanten Verstöße gegen grundlegende volkswirtschaftliche Erkenntnisse, und damit letztlich auch Marxens fundamentale ökonomische Irrtümer (als Soziologe und Philosoph ist er m.E. wesentlich interessanter), die bisher noch jedes sozialistische Wirtschaftsexperiment und damit ganze Gesellschaften in den Ruin trieben und das m.E. auch immer wieder tun werden.
Es gibt keine „kapitalistische“ und „sozialistische“ Volkswirtschaftslehre. Es gibt nur gute und schlechte. „Sozialistische VWL“ ist schlechte VWL, auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts. Marx wäre heute weiter als seine Epigonen.
Genug zu diesem Exkurs.
Aber das Wort „Neoliberalismus“ ist aktuell, häufig gebraucht und offenbar hochpolitisch, emotional aufgeladen. Die Wikipedia schreibt: „Neoliberalismus erscheint heute als wesensmäßig umstrittener Begriff “ (https://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus)
Ein ideales Thema, um nach Klarheit der Sprache zu suchen, und bei verbleibender Unklarheit vorsichtig zu formulieren:
- Zunächst einmal muss klar sein, dass „Neoliberalismus“ keine ökonomische Denkschule ist, sondern eine Sammelbegriff für diverse politische Strömungen, die unter diesen Hut gepackt werden. Und zudem noch ein umkämpfter Begriff und damit politisch aufgeladen. Also ohnehin nicht gerade einer sachlichen Diskussion förderlich. Insofern geht die Gleichsetzung dieses Wortes mit einer bestimmten Konzeption der Volkswirtschaftslehre am Thema vorbei, ist unsauber.
- Wenn etwas als „NEO-liberal“ kategorisiert wird, dann muss es wohl etwas „ALT“- oder „KLASSISCH“-Liberales geben.Schon der Blick in die Wikipedia zeigt nun aber, wie weit und breit auch dieses Feld ist. Um es auf einen ganz kleinen gemeinsamen Nenner zu bringen, kann man diesen „klassischen Liberalismus“ als denjenigen einordnen, der für die maximale Freiheit des einzelnen stand, soziale Aspekte vernachlässigte und seine volkswirtschaftliche Schule in der klassischen Ökonomie fand, die auf dem Fundament ruhte, dass Marktwirtschaft immer funktioniert und der Staat sich vollständig heraus zu halten habe.Und sogar hier, beim Bezug auf Adam Smith, den Urvater der VWL und damit Feinbild vieler, ist es eigentlich nicht so einfach: zwar glaubte dieser daran, dass der Markt sich selbst regelt. Andererseits war Smith aber vor allem auch Moralphilosoph und alles Andere als ein kalter Mensch ohne soziales Denken. Genau zu diesem Thema entsteht derzeit eine brilliante Dissertation.Der Glaube an die einfache Sichtweise des klassischen Liberalismus´ wurde in der Großen Depression schwer erschüttert und damit geriet sowohl der politische Liberalismus wie auch seine ökonomische Denkschule unter Druck. Die neue dominierende Denkschule wurde, bis in die späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, der Keynesianismus. Aber auch dieser entwickelte sich, am Rande bemerkt, in vielen Facetten weiter und teilweise auch fort, bezogen auf die ursprünglichen Keynesschen Ideen.
- Der Neoliberalismus – allgemeinDer Neoliberalismus nun ist zunächst also nichts Anderes als der Sammeltopf für diverse liberale politische Strömungen, die sich nach dem Ende des klassischen Liberalismus wieder neu bildeten. Punkt.In der heutigen politischen Diskussion wird mit diesem Begriff, verwendet man ihn ablehnend, jedoch nur eine neo-liberale Strömung halbwegs zutreffend erfasst: die Untergruppe der Chicago-School, innerhalb des angelsächsischen Teiles der Strömungen.Diese ist in der Tat sehr stark marktorientiert, bildet eine echte volkswirtschaftliche Denkschule mit umfassenden Modellen und kann als eine evolutionäre Weiterentwicklung der klassischen Ökonomie betrachtet werden.Verwandt ist mit ihr auch die ebenfalls angelsächsisch geprägte Österreichische Schule. Sie stand lange im Schatten der Chicago-Ökonomen, ist aber aktuell sehr en vogue.
- Der deutsche Neoliberalismus und seine korrespondierende volkswirtschaftliche DenkschuleUnd damit sind wir über die Historie und diverse Entwicklungen bei uns angekommen. Deutscher Neoliberalismus ist ganz eng verwandt mit der ökonomischen Denkschule des Ordoliberalismus und diese ist das Fundament unserer Sozialen Marktwirtschaft.Und weder dem Ordoliberalismus (Eucken, Böhm, Müller-Armack) noch dem eng verwandten soziologischen deutschen Neoliberalismus (Röpke, Rüstow) kann man „soziale Kälte“ und Unterstützung großer Konzerne oder gar Monopole vorwerfen.Ganz im Gegenteil steht deutscher Neoliberalismus für einen starken Staat, der einen fairen Wettbewerb sicher zu stellen hat. Und er steht für soziale Verantwortung – Eigentum verpflichtet, siehe unser Grundgesetz.Natürlich ist er im Kern liberal: zunächst einmal muss im möglichst freien Spiel erwirtschaft werden, was dann – DANACH – im zweiten Schritt teilweise umverteilt wird.
Aber das wiederum ist keine politische Meinung, sondern die uralte Grunderkenntnis der VWL, vgl. den Anfang des Beitrages: ohne funktionierende Märkte gibt es keinen Wohlstand. es gibt keinen zu verteilenden Kuchen.
Und das ist keine „politische Wissenschaft“, sondern eine ebenso empirisch wie logisch-rationale Erkenntnis.
Und damit zum Fazit: Neoliberalismus deutscher Prägung ist damit weder „kalt“ noch „unsozial“. Er ist die Grundlage unseres heutigen Wohlstandes.
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Manuel Andrack
am 15. June 2018 um 12:02 Uhr
Herzlichen Dank für die Machete, mit der Ralf Kölbach Schneisen in die Begrifflichkeiten des Neoliberalismus schlägt. Wieder einiges gelernt. Ähnlich notwendig scheint mir eine Begriffsklärung, was genau sehr linke Zeitgenossen unter dem „System“ verstehen, das es zu bekämpfen gilt. Das „System“ ist in diesem Zusammenhang ein Suppe aus Neoliberalismus, angeblichem Elitenklüngel und dem bösen Kapital. Verheerend ist, dass schon die Nationalisten den Begriff „System“ nutzten, um die Weimarer Republik, die Eliten und das böse (jüdische) Kapital zu verunglimpfen. Man sollte sich daher mit Pauschalurteilen über „das System“ und auch „den Neoliberalismus“ zurückhalten.
Dr. Ralf Kölbach
am 15. June 2018 um 19:02 Uhr
Vielen Dank, Herr Andrack!
ja, letztlich geht es darum, ohne Schaum vor dem Mund und sachorientiert über Inhalte zu reden und nicht in Kampfbegriffen. Aber wir scheinen uns in Zeiten zu befinden, in denen der Ton schnell rauh und das Vokabular schnell sehr böse wird.
Inhaltliche Substanz, der Versuch einer sachlichen Auseinandersetzung, wird da oft als eher störend, da einfache Welterklärungen hindernd, betrachtet.
Stramm linke und stramm rechte Positionen gab es schon immer und so lange sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes befinden, sollten sich sich gegenseitig aushalten und miteinander reden. das nennt man Demokratie und demokratische Streitkultur.
Und die Liberalen in der Mitte dazwischen gehören natürlich auch zum Kaleidoskop 🙂
Achim Dörner
am 20. March 2018 um 09:26 Uhr
Ein interessanter wie vielschichtiger Beitrag. Im Großen und Ganzen kann ich den Ausführungen beipflichten. Da aber, wie schon die alten Griechen wussten, eine Debatte nur dann Spaß macht, wenn es eine Gegenrede gibt, versuche ich zumindest zwei Aspekte anzugehen.
Einerseits dürfte/sollte die VWL in ihrer Gesamtheit objektiv und frei von „Überbauten“ sein. Allerdings kann man eine Wissenschaft nie getrennt von ihren führenden Köpfen betrachten. Smith und Keynes bzw. deren Ausrichtungen spielen in der Politik des 20. Jahrhunderts eine äußerst wichtige Rolle. Wenn auch nicht im Fokus der breiten Öffentlichkeit, so doch in den Entscheidungsprozessen der Eliten umso mehr. (Zumal Smiths Werk mit dem Hinweis, er sei keineswegs ein „kalter“ Mann gewesen, nicht menschenfreundlicher wird.) Von daher sehe ich Ihren „linken Freund“ nicht komplett auf der falschen Fährte.
Zum zweiten tue ich mich mit der Begriffseingrenzung etwas schwer: Neoliberalismus als Sammelsurium gewisser politischer Strömungen zu definieren, ist aus Sicht eines Beobachters des Zeitgeschehens (ohne den entsprechenden wissenschaftlichen Hintergrund) nachvollziehbar. Warum er mit dem Zusatz „deutsch“ aber dann doch wieder zu einer volkswirtschaftlichen Denkschule/Strömung wird, ist mir nicht ganz klar geworden.
Vielleicht stößt dieser Kommentar ja seinerseits eine Gegenrede an….
Dr. Ralf Kölbach
am 20. March 2018 um 20:40 Uhr
Vielen Dank, Herr Dörner!
Also…klar stößt Ihr Kommentar zur Antwort an.
Zu Ihren Thesen:
1. „Man kann eine Wissenschaft nie getrennt von ihrenden führenden Köpfen betrachten“.
Hundertprozentig d´accord.Die großen Köpfe schufen und schaffen Denkschulen innerhalb ihrer jeweiligen Wissenschaft. Die Kunst besteht darin, zu erkennen, wessen Denkschule, wessen Modelle, in welchem Umfeld die richtige Antwort liefern. Das kann mal das eine, mal das andere sein.
So war z.B. nach der Finanzkrise und dem daraus folgenden Nachfrageschock die keynesianische Politik, u.a. die PKW-Abwrackprämie, zunächst die richtige Antwort. Wenn es jedoch eine Angebotsschwäche aufgrund verkrusteter Märkte und überbordender Regulierung gibt, braucht es eine klassische marktorientierte Politik, eine angebotsorientierte, die die Unternehmen entlastet.
Gute Wissenschaft deckt alles ab und ist elastisch und lernend. Gute Politik erkennt, wann sie welches Modell zur Grundlage ihres Handels machen sollte.
2. „Smith´ Werk ist nicht menschenfreundlich“
Da urteilen Sie hart. Zum Einen finde ich schon sein bekantestes Werk, den „Wealth of Nations“ keineswegs nur kalt und hart. Aber sein mindestens genau so wichtiges Werk ist die „Theory of Moral Sentiments“. Das habe ich noch nicht gelesen. Aber eine mir gut bekannte Forscherin beschreibt darin einen Smith, der sich extrem tiefe Gedanken um Ethik macht.
Marktwirtschaftlich orientierte Menschen müssen nicht kalt sein. Das ist m.E. ein weit verbreitetes Vorurteil.
3. Der „Deutsche Neoliberalismus“
Vielleicht habe ich mich hier unklar ausgedrückt. Die deutsche Strömung, die dem neoliberalen Hauptstrom zugerechnet wird, hat eben auch eine ökonomische Denkschule als Gegenpart entwickelt. Wie so häufig, so verbinden sich auch hier verschiedene Professionen (Politiker, Soziologen, Volkswirte) unter einer „Marke“.
Ähnlich kann man auch die moderne gemäßigte Linke eng in Verbindung bringen mit dem Keynesianismus: seine kritische Sicht auf die Funktionsfähigkeit der Märkte passt zu einer Politik, die mehr reguliert und eingreift.
Der extrem marktwirtschaftliche Flügel der amerikanischen Republikaner und die nahestehenden Volkswirte wiederum finden ihre politische Verortung bei den dortigen Libertären rund um die Tea Party. Diese Strömumg gibt es so in dieser Ausprägung bei uns kaum. Ihre radikale Ablehnung des Staates als den großen Bösewicht rückt sie in die Nähe der Anarchisten. Und dann wird es klar, warum diese Richtung so kritisch auf jede Steuer schaut.
Insofern finden sich ähnliche politische, soziologische und ökonomische Gedanken und Denker blind, sie ziehen sich geradezu magnetisch an. Oder, wie meine Oma sagte: „Gleich und gleich gesellt sich gern!“ 🙂
Die Kunst besteht darin, keiner (ökonomischen) Schule, und sei sie noch so elegant in ihren Modellen, blind zu vertrauen. Sondern immer pragmatisch zu entscheiden: welche Wirtschaftspolitik brauchen wir genau jetzt?