03. Oktober 2021 Buchbesprechungen, Management, Politik und Gesellschaft

Ralf´s Reader´s Corner: „Das Macht-Paradox“ (2016) von Dacher Keltner

Das Thema „Macht“ ist unglaublich ergiebig. Immer wieder taucht es direkt oder indirekt auf, in ganz unterschiedlichen Kontexten. Organisationsstrukturen, gesellschaftliche Strukturen, kommen und gehen. Macht bleibt.

Manchmal glaube ich, dass „Star Wars“ die prägnanteste Darstellung des Themas bietet. Achtung: das ist durchaus mein Ernst, wenn auch mit einem leichten Augenzwinkern. Die Entwicklung des Anakin Skywalker im Laufe der Episoden 1 bis 6 ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie „Macht“ die hellsten und dunkelsten Seiten in Menschen hervorholt und welcher Kampf zu führen ist, damit am Ende die helle Seite siegt und der Mensch nicht zuerst auf dem Seelenfriedhof und dann oft auch in realen Abgründen für verglühte Narzissten endet.

Macht ist ein uraltes Thema der Menschheit und ihre Kraft beschreibt der legendäre Meister Yoda (ein fiktives Wesen aus Star Wars) immer wieder zutreffend.

Dennoch lohnt es sich, neben Star Wars auch anspruchsvolle Literatur, Fachliteratur,  zu diesem zentralen Thema der Menschheit zu durchforsten und einiges davon zu lesen. „Buch macht kluch“ – klingt trivial, ist aber so. Gerade dieses Thema lohnt das Lesen einiger Bücher, die es aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.

Diese Buchbesprechung widmet sich dem recht aktuellen Buch von Dacher Keltner, eines bekannten amerikanischen Psychologie-Professors.

Den Begriff der „Macht“ definiert er als „…Fähigkeit, den Status anderer zu verändern.“ (S. 29)

Macht gibt damit letztlich die Möglichkeit, in das Leben anderer einzugreifen.

Das von ihm über Jahrzehnte erforschte Macht-Paradox fasst er so als Prozess in zwei Schritten zusammen:

1. Entwicklungsstufe:

„Wenn unsere Macht und unser Einfluss zunehmen, versuchen wir, mit dem besten Fähigkeiten, die unsere menschliche Natur zu bieten hat, etwas zu bewirken und etwas in der Welt zu verändern. Die Fähigkeit, etwas zu bewirken, drückt sich darin aus, dass wir das Leben der anderen verändern.“  (Einleitung, S. 7).

Das klingt gut!

Denn: Offensichtlich bringt Machtzuwachs in der ersten Stufe das Beste in Menschen hervor, das volle Aufblühen ihrer Fähigkeiten, die sie wiederum zum Wohle des Ganzen einsetzen. Zumindest scheint das bei den meisten Menschen der Fall zu sein. Die pathologischen Typen, die bereits von der dunklen Seite beherrscht werden, bevor sie Macht und Einfluss haben, stehen in diesem Buch nicht zur Diskussion. Zu diesen, von der Dark Triade geprägten, gefährlichen Menschen gibt es ja genug spezielle Literatur (u.a. Furtner, Kets de Vries).

Keltner beschreibt die normale Entwicklung, in der die Macht zunächst sehr positiv wirkt – für die Person mit Macht selbst und auch die Adressaten.

2. Entwicklungsstufe:

Aber nun kommt das von Keltner herausgearbeitete böse Erwachen, die Stufe 2: „Aber wir verlieren die Macht wieder aufgrund unserer schlimmsten Fähigkeit: In einer paradoxen Wende verleitet uns das Bewusstsein, über Macht und Privilegien zu verfügen, zu Machtmissbrauch.“ (S.8)

In jedem Fall dreht sich ein nicht unwesentlicher Teil des menschlichen Lebens um das Erringen, Bewahren und Verlieren von Macht: „Man kann es mögen oder nicht, aber wir Menschen sind verrückt nach Macht, Ruhm und Ansehen.“ (S. 11)

Warum ist das so? Keltner beschreibt die Magie der Macht so: „Überall in der Welt erfahren die Menschen Macht als eine lebendige Kraft, die ihr Leben bestimmt und leitet. Macht ist ein Schuss Dopamin, und diese anfänglichen Gefühle können sich so aufschaukeln, dass wir mit unseren Mitmenschen wie bei einem manischen Schub umgehen.“ (S. 13)

Damit wird nachvollziehbar, dass es Menschen zur Macht zieht und ebenfalls berauschend wird ihr Janusgesicht: Macht löst Emotionen aus, die außer Kontrolle geraten können.

Aber wie kann Macht auf Dauer bei einer Person bleiben? Wie kann der an sich für den einzelnen und die Gruppe positive Zustand stabilisiert werden? Indem andere es zuerst ermöglichen und dauerhaft zulassen: „Dauerhaft über Macht zu verfügen, ist ein Privileg, das davon abhängt, dass uns andere Macht auf Dauer verleihen.“ (S.12) Macht ist also etwas, das uns von anderen verliehen wird. Eine überraschende Erkenntnis, denn auf den ersten Blick sieht es oft danach aus, dass sich ein Individuum Macht gegen andere, gegen die Gruppe,  erkämpft.

Das von der Gruppe mit Macht ausgezeichnete Individuum wird von dieser angetrieben und hat im Zeitablauf zwei Möglichkeiten:

a) Es bewirkt auf Dauer Gutes in der Welt und behält so die Hochachtung der Gruppe. Diese dauerhafte Akzeptanz äußert sich in dauerhaftem Verleihen von Macht an ihn/sie.

Oder es geht schief:

b) Das Individuum wird von den Optionen der Machtausübung verführt, verliert die Kontrolle, tut Schlechtes, verliert deswegen zuerst die Akzeptanz der anderen und danach wird ihm von diesen die Macht wieder entzogen.

Kann ein Mensch diesen Spagat schaffen und dauerhaft über dem Abgrund balancieren? Laut Keltner ja, das ist die gute Botschaft. Es ist jedoch ein Ritt auf der Rasierklinge für den Mächtigen: „Der Umgang mit dem Macht-Paradox hängt davon ab, wie wir die Balance zwischen der Erfüllung der eigenen Wünsche und dem Fokus auf die anderen finden.“ (S.14)

Gelingt es, diese Balance zu finden und zu erhalten, schafft Macht gleichzeitig tiefe Befriedigung für das von der Gruppe  er-mächtigte Individuum und Gutes in der Welt.

Für das er-mächtigte Individuum liegt die Gefahr aber immer nur einen Schritt entfernt: die Macht selbst kann dazu führen, dass das Individuum exakt jene positiven Fähigkeiten verliert, die erst dazu führten, dass andere zuerst aufmerksam wurden und ihm dann Macht verliehen hatten.

Macht kann sich somit aus Belohnung in Verderben verwandeln. Dadurch, dass Gruppen einzelnen Macht verleihen, geschieht erst das Gute, aber später kann sie das so ausgezeichnete Individuum verderben und in der Konsequenz muss diesem die Macht wieder entzogen werden.

Dazu gibt es zahlreiche bekannte Beispiele. Solche, die den Spagat schafften, dauerhaft „oben“ blieben“ – und solche, die zuerst die Bodenhaftung verloren, dann die Unterstützung ihres Umfeldes und dann…abstürzten.

Keltner vertieft diese grundlegenden Prinzipien im Verlauf des Buches immer tiefer. So entwickelt er 20 Prinzipien der Macht, die seine Überlegungen bündeln.

Besonders beeindruckt haben mich folgende Prinzipien:

9. Dauerhafte Macht erwächst aus Empathie

Auf den ersten Blick könnte man auch denken, dass Empathie den Aufbau von Macht bremst, da sie das srupellose Verhalten verhindert, das scheinbar nötig ist, um mächtig zu werden.

10. Dauerhafte Macht beruht auf Geben statt Nehmen

Geben ist also nicht nur seliger als nehmen in bezug auf das eigene seelische Wohlergehen, sondern es ist zugleich das Fundament einer nachhaltigen Machtposition. Auch dieses Prinzip ist nicht unbedingt intuitiv – aber sehr überzeugend, denkt man tiefer darüber nach.

13. Macht führt zu Defiziten an Empathie und moralischem Handeln.

Und hier zeigt sich die Gefahr: empathische Menschen überzeugen und ihnen wird Macht verliehen. Die Macht wiederum aber droht, ihnen genau diese zentrale Fähigkeit der Empathie zu nehmen.

Wo aber wirkt diese Macht, worin äußert sie sich? Keltner beschreibt es so: „Unsere Macht ist in ganz einfachen Handlungen verborgen, die Menschen zusammenführen und der Gruppe den größten Vorteil bringen.“ (S. 38)

Derjenige, der anderen hilft, ihr Leben positiv zu verändern, übt Macht aus. Wirkt er/sie dauerhaft derart segensreich, ist die Macht gekommen, um zu bleiben.

Keltners Analysen und Definitionen zeigen aber auch ganz klar eines auf: Wirklicher Träge der Macht ist immer eine Gruppe. Sie ermächtigt einzelne – und typischerweise nur auf Zeit – für sie zu sprechen und zu handeln. Die wahre Macht liegt also nie bei einer Person, sondern in Netzwerken.

Derjenige, der im Sinne des Netzwerkes handelt und allen hilft, erhält Macht. Diese Macht aber wechselt im Laufe der Zeit immer wieder auf andere, die der Gruppe einen höheren Nutzen bieten. das kann fließend geschehen, aber auch abrupt: unterliegt ein Mächtiger dem Macht-Paradox, wird ihm die Gruppe diese Macht schneller wieder nehmen. Und dieses Paradox schlägt schnell zu, wie Keltner nicht müde wird, zu erläutern:

  1. Macht als Fähigkeit, Einfluss zu nehmen, ist ein gutes Gefühl für das Individuum.
  2. Menschen suchen derart gute Gefühle (Dopaminschübe im Gehirn) und damit die Verursacher, also auch Macht.
  3. Diese Schübe werden durch Macht wiederholt ausgelöst, was den Wunsch nach mehr Macht auslöst.
  4. Der Wunsch nach immer mehr Macht zerstört die guten Eigenschaften des Individuums, es kommt zunehmend zu anti-sozialen Handlungen.
  5. Das Individuum wird für die Gruppe gefährlich, mindestens aber nutzlos. Ihm wird die Macht gekommen.
  6. Das Individuum blickt in den Abgrund der narzisstischen Krise oder auch realer Existenzvernichtung.

Fundamentale Erkenntnis ist somit, dass Macht nicht ergriffen, sondern verliehen wird. Am Anfang steht immer die Überzeugung der Gruppe, genau dieses Individuum mit Macht auszustatten; es für die Gruppe handeln und sprechen zu lassen.

Hiermit beschäftigen sich die Prinzipien fünf bis acht aus der Gruppe der 20.

Die Prinzipien neun bis zwölf wiederum beschreiben den weg zu dauerhafter Macht: Entgegen der Intuition vieler beruht dieser eben nicht darauf, sich gegen andere durchzusetzen – sondern auf dem Gegenteil: Macht bleibt beim Individuum, wenn es sich auf das Wohl des Ganzen, der Gruppe, fokussiert. Damit bleibt das er-mächtigte Individuum für die Gruppe nützlich und diese vertraut ihm auf Dauer.

Diese These erinnert mich an eine Aussage zu guter Führung, die mich seit langem begleitet (und deren Ursprung mir ad hoc nicht bekannt ist): „Als Vorgesetzter wird man von oben eingesetzt, als Führungskraft von unten erwählt.“

Letztlich ist es also die Gruppe, die einen der ihren nach vorne bringt, auf den Schild setzt und ihn trägt – wenn er/sie die Gruppe im Sinne aller Mitglieder führt.

Keltner beschreibt Abraham Lincoln als perfektes Beispiel eines Mächtigen, der auf der Basis extremer Empathie agierte: „Lincolns philosophisches Genie basierte darauf, die Gedanken aller anderen zu kennen. Seine bleibende Macht hatte ihre Grundlage in seinem Versuch, die Gefühle der anderen zu verstehen.“ (S. 77)

Auch das hat etwas Paradoxes: der Fokus auf andere stabilisiert die eigene Macht. Betrachtet man sich jedoch die großen Charakterköpfe der Menschheit und ihren enormen Einfluss, so passt diese These sehr wohl. Martin Luther King, Mutter Theresa, Mahatma Gandhi setzten sich für andere ein, blickten weit über sich hinaus. Und waren offensichtlich gerade deshalb so einflussreich. Ihnen gelang es aber offenbar auch, dass sie sich ihre Menschlichkeit, die sie letztlich mächtig gemacht hatte, bewahren konnten.

Es mag sein, dass meine Sicht Sicht hier etwas laienhaft und unpräzise ist, aber diese Menschen erscheinen mir als Beispiele, die Keltners Thesen belegen.

Diese Thesen, seine Grundbotschaft, sind ohnehin überaus positiv, denn aus ihnen folgt, dass kein bösartiger Mensch auf Dauer mächtig bleiben kann. Auch, dass am Anfang wahrscheinlich ein Mensch mit guten Absichten stand, der leider Anakin Skywalkers Weg ging.

Aber sogar dieser Weg endete doch noch gut: Anakin fand den Weg zu sich, zu seiner Menschlichkeit  zurück und Darth Vader, Anakins dunkle Seite, sein Ende.

Während diese epischen Höhen und Tiefen Stoff für großes Kino bieten, dürfte es doch gesünder sein, den Weg zur dunklen Seite gar nicht erst einzuschlagen. Keltners Analysen zeigen auf, wie sich Macht zum Wohl des Ganzen einsetzen lässt und kommen kann, um zu bleiben.

Fazit: ein ganz hervorragendes Buch, das mich viel gelehrt hat.

5/5 Sternen -bitte lesen!