01. September 2019 Buchbesprechungen, Politik und Gesellschaft

Ralf´s Reader´s Corner: „Muße – vom Glück des Nichtstuns“ (2012) von Ulrich Schnabel

Diese Buchbesprechung ist all denen gewidmet, die Schwierigkeiten haben, in diesen bewegten Zeiten gelegentlich „abschalten“ zu können. Auch denjenigen, die das durchaus tun könnten, es aber aufgrund eines „schlechten Gewissens“ nicht tun und somit ihre Gesundheit immer mehr gefährden. Menschen sind keine Maschinen. Wird der Müßiggang verlernt, leidet auch irgendwann die Leistungsfähigkeit.

Der Autor Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der ZEIT und wurde für seine hochwertigen Bücher mehrfach ausgezeichnet.

Diesem Buch stellt er ein Zitat von Fred Luks voran, das sehr gut auch zu den extrem hitzigen aktuellen Diskussionen passt: „Entspannen Sie sich. das ist wahrscheinlich das Beste, was Sie zur Rettung der Welt beitragen können.“

Wie wahr. Hitzige Diskussionen, die in Aktionismus münden, retten weder die Welt im Ganzen, noch im direkten Umfeld.

Mehr Muße, mehr Entspannung, würde vielleicht auch zur Rückkehr sachlicher Diskussionen und der Rückbesinnung auf Fakten führen, auch zu einem fairen Umgang miteinander.

Schnabel beschreibt unsere Gesellschaft als von „permanenter Zersteuung“ (S. 14), „Reizüberflutung“ (S. 15) und „dem Gefühl ständiger Überforderung“ (S. 15) geprägt.

Er konstatiert eine Sehnsucht nach Muße, aber zugleich eine große Furcht vor ihr – vor Nichtstun und Langeweile.

Wie aber definiert Schnabel diesen uralten Begriff? Für ihn bezeichnet Muße „[…] jene Stunden, in denen wir ganz das Gefühl haben, Herr über unsere eigene Zeit zu sein, in denen wir einmal nicht dem Geld, der Karriere oder dem Erfolg hinterherrenen, sondern in denen wir zu uns selbst und unserer eigentlichen Bestimmung kommen.“ (S. 21)

Diese so definierte phasenweise Muße wiederum gilt als absolut notwendig, damit Menschen gesund, leistungsfähig und kreativ bleiben.

Diese Phasen des Nichtstuns – des Ausbrechens aus dem Hamsterrad – sind es, die erst das dauerhafte Überleben in demselben ermöglichen.

Es gilt: „In der Ruhe sind wir erstaunlich aktiv. Die Stunden scheinbarer Untätigkeit helfen uns nicht nur, uns körperlich zu regenerieren, sondern fördern auch Gedächtnisleistung, Selbstbewusstsein und Einfallsreichtum.“ (S. 105)

Schnabel sieht sein Buch konsequenterweise als „Diätratgeber für den Geist.“ (S. 21) „Es will helfen, den Blick für das Wesentliche zu behalten und die Kunst dessen zu pflegen, was früher Muße genannt wurde.“ (S. 21)

Schnabel konstatiert als Ergebnis des pausenlosen Rennens im Hamsterrad: „Doch seltsam, trotz all dieser Anstrengungen geht es uns wie den Figuren in Michael Endes Kinderbuchklassiker Momo, die verwundert feststellten: Je mehr Zeit sie sparen, umso weniger haben sie.“ (S. 35)

Diese paradoxe Situation, diesen ungesunden Umgang mit der eigenen Gesundheit, dieses Jagen einer Schimäre, analysiert Schnabel anhand vieler Beispiele und unterfüttert die Botschaften immer wieder mit zahlreichen wissenschaftlichen Studien.

Nun wundert man sich, warum wir fast alle, und oft im Bewusstsein dieser ja gar nicht unbekannten Einsichten, dennoch immer wieder rennen, anstatt inne zu halten und dabei Kraft und Kreativität zu tanken.

Und warum sind die Menschen zunehmend gehetzter, obwohl sie doch eigentlich (im Durchschnitt) immer mehr Freizeit haben?

Hier beschreibt Schnabel eine wichtige Erkenntnis: „Manche Menschen vertrödeln unendliche Stunden ihrer freien Zeit mit Tätigkeiten, die weder zur Erholung noch zum Glück führen […]“ (S. 45)

Das ist es und es ist zentral: „Die Kunst der Muße hat letztlich also nichts mit der Zahl der freien Stunden zu tun, sondern mit einer Haltung.“ (S. 45)

Muße und ihre gesundheitsfördernde Wirkung ist also nicht positiv mit der Zahl freier Stunden korreliert, sondern ausschließlich mit der Stärke der inneren Fokussierung auf die Zeit mit sich selbst, die Eigenzeit. Ist man bei sich selbst, können wenige Minuten mehr entspannen, als der stundenlange Konsum von fremden Inhalten, welcher Art auch immer.

Dieses bei sich selbst sein, oft auch als „flow“ bezeichnet, umschreibt Schnabel so: „Das Gehirn geht in sich selbst spazieren. Und dabei kann es nicht nur intern für Ordnung sorgen, sondern auch frische Verbindungen zwischen Nervenzellen knüpfen und so neue Zusammenhänge zwischen gespeicherten Fakten herstellen.“ (S. 121)

Ein schönes Bild, dieses walking brain.

Menschen, denen dieses bei-sich-sein relativ leicht fällt, beschreibt Schnabel in seiner „Galerie großer Müßiggänger(innen)“. Er bezeichnet diese Menschen auch augenzwinkernd als „Querdenker, Pausenkünstler und Abwesenheitsexperten.“ (S. 137)

Danach beschreibt er dann erneut „Das System der Gehetzten“ (ab S. 165), dann „Inseln der Muße“ (ab S. 201), um dann über „Die Wege der Veränderung“ (ab S. 237) in die Empfehlungen zu wechseln.

Schnabel beschreibt Muße als eine Kombination von Fähigkeiten, die es zu erwerben gilt (S. 240/241):

  1. Schritt: Echte Verhaltensänderungen brauchen Zeit, innere Widerstände müssen in Ruhe erkannt und adressiert werden.
  2. Schritt: „Lernen Sie, Nein zu sagen.“ (S. 240) Diese Fähigkeit ist gemäß Schnabel der Schlüssel zur Muße. Ohne Abgrenzung keine echte Eigenzeit. Ohne echte Eigenzeit keine Muße.
  3. Schritt: Um zu wissen, wozu man „Nein!“ sagen sollte und welche Themen wiederum zu echter Eigenzeit führen, muss man sich selbst kennen.

    Womit es wieder philosophisch wird: „Erkenne Dich selbst“, steht am Apollotempel von Delphi.

Die Struktur des Buches finde ich etwas unruhig, nicht ganz stringent und systematisch. Außerdem ist die Fülle an Studien und Zitaten zwar zweifelsohne fundiert und sehr lehrreich, aber macht das Lesen phasenweise ungeschmeidig. Hier wäre weniger mehr.

Insgesamt ein sehr hochwertiges und hilfreiches, anspruchsvolles Buch.

Fazit: 4 von 5 Sternen