25. April 2023 Buchbesprechungen, Politik und Gesellschaft

Ralf´s Reader´s Corner: „Wahrhaftigkeit“ (2021) von Cornelius Riese

Nach längerer Pause war es an der Zeit, wieder eine Buchrezension zu schreiben. Wie üblich, lese ich einige Bücher parallel und einige sind aktuell beendet.

Eines davon ist Rieses Buch, das ich zweimal las und auch beim zweiten Mal interessante neue Ideen entdeckte, die mir Denkanstöße lieferten.

Dieses Buch ist unter mehreren Aspekten ungewöhnlich:

  1. Der Autor: Dr. Cornelius Riese ist Co-Vorstandsvorsitzender (zukünftig alleiniger Vorstandsvorsitzender) der DZ Bank und damit einer Großbank. Bücher zu schreiben, ist in diesen Positionen eher unüblich.
  2. Der Aufbau des Buches: es vereint acht Geschichten, die zwar thematisch verbunden sind, jedoch völlig unterschiedlichen Erzählkategorien angehören: es findet sich eine enorme Bandbreite, von der Novelle über die Parabel, ein Schauspiel bis hin zum sokratischen Dialog.
  3. Die Sprache: diese ist ungewöhnlich. Es ist eine bisweilen „alt“ anmutende, sehr hochwertige Sprache, die ein hohes Maß an ästhetischer Eleganz und der Freude daran verrät. Sie atmet Sachlichkeit und Präzision.

 

Alle acht Erzählungen sind es wert, gelesen zu werden. Sie alle befassen sich mit „Wahrhaftigkeit“; unter jeweils anderem Blickwinkel. Jedoch ist jedes Stück für sich lesbar; es gibt keine verbindende Geschichte, keine inhaltlichen Abhängigkeiten.

Die Reise durch die Welt verschiedener Facetten des Mottos „Wahrhaftigkeit“ beginnt mit „Entführung und Erwachen.“ Es beschreibt die Entführung eines Managers, dem von seinen Entführern, in teilweise skurrilen Dialogen, Vorwürfe gemacht werden, die seine angeblich nicht gelebte Verantwortung für den Planeten Erde betreffen. Bemerkenswert ist, dass dieser Kontext die aktuell stattfindende Radikalisierung eines kleinen Teils der Klimarettungs-Bewegung vorwegnimmt; ebenso die Zuspitzung der zugehörigen gesellschaftlichen Diskussion.  Dieses „Warmup“ hinterließ relativ zu den anderen Texten nicht so viele bleibende Eindrücke bei mir – wahrscheinlich weil das Thema uns aktuell ständig beschäftigt – jedoch finde ich den folgenden Satz sprachlich bemerkenswert und erlebte ihn als eine erste Impression der sich durch das Buch ziehenden ungewöhnlichen Sprache: „Die soziale Karawane an persönlichen Beziehungen in seinem Leben war quantitativ stärker ausgeprägt als qualitativ“ (S. 8).

Wann habe ich so etwas zuletzt gelesen; bei wem? Ich weiß es nicht. Mich erinnern die Rieseschen Sätze ein wenig an Thomas Mann; die extreme Disziplin an Kant. In jedem Fall ist dieser Satz eine für das Buch typische sprachliche Symbiose aus hoher Präzision und hohem Bildgehalt.

Der Text selbst endet ergebnisoffen: es ist nicht klar, ob sich diese Entführung nun real zugetragen hat oder nicht. Klar ist hingegen, dass der Protagonist zum Nachdenken buchstäblich gezwungen wurde und seinen persönlichen Weg zur Wahrhaftigkeit finden muss.

Der zweite Text, „Erkenntniszirkel“, reflektiert die uralte Frage nach der Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz. Er befasst sich sehr konkret mit der Diskussion, ob ein Leben im Korridor des aktuellen gesellschaftlichen Mainstreams tatsächlich ein „gutes“, glückliches ist – oder nicht vielleicht doch ein zielloses, unverbindliches, ein sich Drehen um die eigene Existenz.

Der dritte Teil des Buches, „Forschungsreise“, ist ein Anklang an die Zeit der Pandemie, in der dieses Buch in Teilen geschrieben wurde. Der Text beginnt und endet mit Hinweisen auf Thomas Manns „Zauberberg“. Dieser große Roman ist Start- und Zielpunkt der Protagonistin, die sich an der unzureichenden Lernkurve von Wissenschaft und Gesellschaft rund um die Pandemie aufreibt. Hinter ihr verbirgt sich der Autor, dessen bekannt sachliche und präzise Art hier durch die Protagonistin kopfschüttelnd auf die suboptimale wissenschaftliche Aufarbeitung der Pandemie blickt, in der sie die Wahrhaftigkeit vermisst.

Text vier, „Nahestehende Personen“, ist ein Schauspiel mit Biss. Die Verlogenheit aller Charaktere stellt der Autor mit seiner bildhaften Sprache besonders drastisch dar. Familienangehörige, drei Geschwister, treffen sich im Nachgang der Beerdigung ihrer Eltern und öffnen sukzessive die Büchse der Pandora ihrer jeweiligen Verfehlungen. Hier ist einer meiner Favoriten aus diesem satirischen Feuerwerk: „Mit dieser Begrüßung habe ich mein Reservoir an empathischer Führung schon aufgebraucht.“ Dieser Satz wird mir im Gedächtnis haften bleiben. Nachdenklicher ist der folgende: „man sollte seine Energie auf Dinge lenken, die man noch beeinflussen kann. In Abwesenheit der Möglichkeit von Zeitreisen gehört die Vergangenheit nicht dazu.“

So kann man die volkstümliche Version  – „Hinter dem Pflug ist geackert“ – dieser Idee auch darstellen, köstlich. Solche Sätze finden sich immer wieder in Rieses Buch und ich genoss es, sie zu lesen.

Inhaltlich zeigt dieses Schauspiel auf, wie weit wir letztlich alle vom Ideal der Wahrhaftigkeit entfernt leben. Zwar sind die Charaktere satirisch weit überzeichnet, aber Teile von ihnen leben in uns allen. Eine der Hauptdarstellerinnen, fasst es selbst zusammen: „Moralische Klarheit haben wir alle drei vermissen lassen. Wir sind gleichrangig in unserer Tugendlosigkeit.“

Während man noch herzhaft über diese Charaktere und ihre Schwächen lacht, baut sich parallel das Gefühl auf, besser nicht den ersten Stein auf eine von ihnen zu werfen.

Es erinnert mich ein wenig an Carl Sternheims bissige Komödie „Der Snob“; insbesondere die Person des Christian; bei Sternheim ist es „Christian Maske“.

Dieses Schauspiel ist ein Genuss und verdient eine Aufführung. Für mich ist es der Höhepunkt des Buches.

Der nächste Text, „Nutritheismus“ behandelt das in der Menschheitsgeschichte immer wiederkehrende Thema von Glaubenssätzen, auf deren Basis sich Sekten bilden, die, zu Mehrheitsreligionen herangewachsen, die Gefahr totalitärer Systeme erzeugen. Der Nutritheismus, also die Verherrlichung der körperlichen Gesundheit, des „biologischen Inneren“, wird hier als weitere Spielart dieser zutiefst  menschlichen, aus dem tiefen Wunsch nach Gemeinschaft und Glück resultierenden, Eigenschaft dargestellt.

Die Protagonistin, eine Schülerin, probt den Aufstand: sie schreibt unbeobachtet in der Pause zwei geradezu lästerliche Zitate von Erich Fromm und Friedrich Nietzsche an die Tafel. Besonders jenes von Nietzsche lässt in seiner Klarheit nichts zu wünschen übrig und ist ein direkter Anschlag auf diese Religion: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen“ (S. 93).

So beginnt also die Revolution gegen diese Religion mit der Suche nach Wahrhaftigkeit: was ist eigentlich „Gesundheit“?

„Talkshow“, der folgende Teil des Buches, kritisiert die moderne Medienwelt, ihre Kultur der Konflikterzeugung um jeden Preis ebenso wie ihre intellektuelle Mittelmäßigkeit. Selbstzerfleischung, Lamentierkultur, fehlende Suche nach den Fakten – alles wird kräftig vorgeführt. Liest man diesen Text, ist es ein leichtes, in ihm die realen Talkshowformate zu entdecken, die der Karikatur manchmal nur wenig nachstehen.

Der nächste und vorletzte Text, „Verließ“, hat etwas Beklemmendes. Porträtiert wird ein allmächtiger Unternehmer, Herrscher eines gewaltigen Digitalkonzernes, der sich an seinen Trophäen erfreut. Gestartet als Idealist, ist er nun ein durch und durch finsterer Lord, der im Keller seines Unternehmensgebäudes Gefangene hält, deren Freiheit so wichtig wäre: den Wettbewerb, die Geschäftsethik, die Konzentrationsfähigkeit und die Autonomie. All diese Gefangenen betrachtet er mit Wohlgefallen, sichert ihre Unfreiheit doch seine Vormachtstellung, die er anderen als „Freiheit“ verkauft und als solche gewahrt sehen will. Zum Schluss wird eine weitere Gefangene angeliefert…aber das sollten Sie selbst lesen.

„Verließ“ hat mich neben dem Schauspiel „Nahestehende Personen“ am meisten beeindruckt.

Das Buch schließt mit dem Text „Wahrhaftigkeit“, also dem Titel-Text.  Hier reflektiert der Autor das Thema des Buches, vorher aus verschiedensten Perspektiven betrachtet, in der Tiefe. Zwei Freunde diskutieren das Thema „Wahrhaftigkeit“. Die Quintessenz des permanenten inneren Dialogs zur Wahrhaftigkeit fasst dieser Satz wunderbar zusammen: „Es ist ein permanentes Streben, die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen im Sinne eines Maßstabes der bestmöglichen individuellen Objektivität zu verstehen und auf dieser Grundlage vorstellungsfrei zu transportieren“ (S. 122).

Gegen Ende zeigt sich der Manager offen und formuliert sein Credo und weshalb dieses auf dem Ziel der Wahrhaftigkeit fußt: „Der konsistente, durch die Wahrhaftigkeit ermöglichte Einklang des eigenen Ichs, des Denkens und des Handelns strahlt von Führungspersönlichkeiten ab und findet seinen Resonanzboden in den jeweiligen Organisationen“ (S. 126f.).

Komplizierte Sprache bis zuletzt, und keine einfache Kost. So ist dieses Buch.

Es zeigt auf, dass das Streben nach Wahrhaftigkeit letztlich alternativlos ist, wenn es Entwicklung hin zum Besseren geben soll.  Wahrhaftigkeit ist somit zugleich das Ziel und der Weg.

 

Fazit:

Dieses Buch ließ mich nachdenklich zurück. Der Autor schafft es, Reflektion zu erzeugen. Nicht alle Texte haben die Tiefe der besten, aber im Saldo hat dieses Buch eine erstaunliche Qualität, bedenkt man, dass es von einem Topmanager  „nebenbei“ geschrieben wurde.

Im Quervergleich der von mir gelesenen Bücher sind es 4/5 Sterne; unter Beachtung der obigen Zeilen, also des nicht-professionellen Schreibens, sogar 5/5.

Lesen!