11. Mai 2024 Allgemein, Digitalisierung

Ralf´s Reader´s Corner: „Home Office – ein pandemisches Experiment“ (2022), von Matthias Ehlert

Dieses Buch ist ein ungewöhnliches: Es beschreibt nicht die Situation nach der Pandemie, sondern befasst sich bewusst mit der Zeit der Pandemie selbst, mit dem Übergang, mit all den Unsicherheiten während dieser Zeit.

Es wartete nicht auf das Ende der Pandemie, sondern beschrieb deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt aus der Innensicht, wie für die Titel der Reihe „update gesellschaft“ des Carl-Auer Verlags üblich.

Der Autor Matthias Ehlert war u.a. Redakteur bei der FAZ und ist aktuell im ZEIT Verlag stellvertretender Chefredakteur des Kunstmagazins Weltkunst.

Er beschreibt im Buch seine Sicht auf die „Bürowelten“ in der pandemischen Zeit.

Der Reiz der Buchreihe liegt nun zweifelsohne darin, dass die vorläufigen bzw. vermeintlichen zwischen-Erkenntnisse „im Nachgang“ – hier nach Ablauf der Pandemie – mit der tatsächlichen Situation nach der Phase verglichen werden können.

In diesem Fall analysiert der Autor die sich als Folge des Homeoffices beschleunigt verändernde Bürowelt in der Pandemie.

Den starken Aufschwung des Homeoffices in jener Zeit bezeichnet er als „geradezu überstürzten[n], flächendeckende[n] Rückzug ins Homeoffice“ (S.11) , der einen „eruptiven gesellschaftlichen Wandel“ (S.11) markiere.

Dennoch beschreibt er den Wandel als „erstaunlich reibungslos“ (S. 11) in der Welt der Angestellten, in der Welt des Büros.

Diese überraschende Erkenntnis wirft für Ehlert die Frage auf, ob dieser Rückzug der Angestellten ins Homeoffice letztlich ohnehin vorgezeichnet, gar unvermeidlich war bzw. ist.

Als möglichen Zeugen hierfür zitiert er Kafka, der, so Ehlert, dem Büro nichts habe abgewinnen können.

Ehlert beschreibt diese Angestelltenwelt im Büro als eine untergehende: „So wie der Bauer mit seiner Scholle in der agrarischen Welt verwachsen war, war es der Angestellte mit seinem Büro in der nun an ihr Ende kommenden prädigitalen Dienstleistungsgesellschaft.“ (S. 18)

Dieses Verwachsen mit dem Büro sieht der Autor gar als Bedienung tiefster Bedürfnisse: „Es bediente sein essenzielles Bedürfnis nach einem festen Platz im Leben, wie es der Ausdruck „Festanstellung“ so präzise auf den Punkt bringt.“ (S. 18)

Die Konsequenz dieser Einschätzung ist, dass Angestellte nicht frei waren bzw. sind; Ehlert beschreibt diese Lebenssituation als eine der „uneingestandenen Abhängigkeit.“ (S.20) Dies sieht er insbesondere relativ zu Freiberuflern und eigenständigen Kaufleuten. Diese, so der Autor, arbeiten zwar auch oft am Schreibtisch, aber sie sind frei, während die Angestellten sich zwar ihnen gerne annähern, aber insgeheim um ihre ungleich schwächere Stellung wüssten.

Damit sind Angestellte aus Sicht des Autors Getriebene, voller Angst um ihre „Festanstellung“.

Diese Ängste, so Ehlert, seien mit dem Raumkonzept „open Space“, des umbenannten Nachfolgers des Großraumbüros verstärkt worden. In Verbindung mit der Digitalisierung und der damit verbundenen erhöhten Verfügbarkeit habe der Stress als Folge einer verschwindenden Abgrenzung von Privat- und Berufsleben permanent zugenommen und die Urängste der Angestellten erhöht.

Hinzu sei dann noch zusätzlich die Erwartungshaltung der permanenten Veränderung bis hin zur Notwendigkeit des ständigen sich neu Erfindens getreten, die den Druck auf die Angestellten weiter aufbaue.

Das Homeoffice nun, so der Autor, habe den Angestellten ungewohnte Freiheiten verschafft, gewissermaßen die Rückkehr der Autonomie. Ehlert schreibt: „Die Kommunikation war herrschaftsfreier geworden.“ (S. 48)

Ehlert beschreibt den als Folge des Homeoffices sich ergebenden Kontrollverlust des mittleren Managements drastisch: „Dafür stellte sich bald Mitleid mit den Vorgesetzten ein. Sie, die vermeintlich Sicherheit und Ordnung ausstrahlen sollten, waren selbst am unsichersten angesichts der neuen Verhältnisse.“ (S. 49)

Im weiteren beschreibt der Autor, wie Tools das kollaborative Arbeiten in dieser Zeit nach vorne gebracht haben und agile Prinzipien die Arbeitswelt immer mehr hin zum Team bewegen, weg von der Hierarchie. Diese Entwicklung stellt auch eine Weiterentwicklung der Lean-Prinzipien dar, die letztlich wiederum auf dem japanischen KVP-Modell aufbauen, in dem bereits das Team der zentrale Akteur war.

Ehlert sieht hier den „Abschied vom Boss“ (S.57) heraufziehen: „Jeder ist jetzt ein kleiner Vorgesetzter für den anderen, auch wenn dieses Wort beim agilen Arbeiten verpönt ist.“ (S. 57)

In der Folge sieht er auch das Interesse an Führungsjobs schwinden, das Thema KI bereits im Auge: „Kein Wunder, dass das Chefsein bei der jüngeren Generation immer weniger gefragt ist. Es scheint kein Beruf mit Zukunft [zu] sein. Wahrscheinlich übernehmen auch hier bald die Algorithmen der künstlichen Intelligenz.“ (S. 60)

Noch drastischer an anderer Stelle: „Für die kontrollversessenen Manager der mittleren Hierarchieebenen brechen harte Zeiten an. Sie werden die ersten sein, die nicht mehr gebraucht werden.“ (S. 78)

Hier taucht somit der Gedanke an das Ende des mittleren Managers einmal mehr auf. Wie oft wurden diese Hierarchieebenen schon totgesagt? Aber geht es wirklich ohne sie? Ehlert sieht es so kommen.

Mit dieser Entwicklung wird laut Autor durchaus vieles einfacher für die Angestellten.

Der Gedanke an diese neue Welt ist jedoch für Ehlert wenig erquicklich: „Verstecken kann sich in solchen Prozessen keiner mehr, die flachen Hierarchien und neuen Managementrollen legen Stärken und Schwächen schonungslos offen.“ (S. 60f.)

Auch die neuen Angestellten in ihren Homeoffices leben aus seiner Sicht nicht unbedingt in der besten aller Welten, müsse doch jeder „…zum Mini-CEO des eigenen Ich“ (S. 79) werden.

Die meisten Sorgen bereitet Ehlert jedoch die sich verschärfende Zweiteilung der Gesellschaft: während die eben genannte Gruppe die Vorteile der Zeit- und Ortssouveränität genießen kann, sofern sie den inneren Druck der ständigen Selbstoptimierung bewältigt, so ist dieses der anderen Gruppe – jenen, für die Homeoffice keine Option ist – nicht gegeben. Ihnen gehe der Halt verloren, da weite Teile des Unternehmens sich in den virtuellen Raum verlagerten.

Der Autor befürchtet also eine Spaltung der Gesellschaft als Folge des aus der Pandemie sich beschleunigenden Trends hin zum Homeoffice.

Soviel zu diesem spannenden Buch. Wirklich lesenswert.

Wo stehen wir heute – zwei Jahre später – in Bezug auf die von Ehlert aufgeworfenen Fragen? Nun, „the race is still on“, trifft es vielleicht.

Es gibt Unternehmen, die das Thema Homeoffice wieder massiv einschränken. Andere bauen es noch aus. Neue Raumkonzepte entstehen hier, wärend dort Räume aufgegeben werden.

Die Lage ist unübersichtlich, die Dynamik gewaltig. Wir sind immer noch mitten im Veränderungsprozess.

Insofern wäre auch eine überarbeitete Zweitauflage des Buches unverändert keine ex post-Betrachtung, sondern erneut ein update.

Ich würde es lesen.

Fazit: 4 von 5 Sternen