25. Dezember 2020 Filme und Serien, Schach

„The Queen´s Gambit“ (Netflix-Miniserie) – einige Gedanken

Ich spiele Schach seit meinem 13. Lebensjahr (lernte es also viel zu spät, um wirklich gut zu werden) und liebe es. Schach ist ein komplett eigener Kosmos, in dem man glückliche Momente erleben kann, oder flow auf neudeutsch.  Nicht unbedingt primär bei Siegen, jedenfalls ist das bei mir so, sondern im Gefühl, das Spiel der Meister zumindest ansatzweise zu verstehen und manchmal selbst eine ordentliche Partie mit ästhetischen Zügen zu spielen. Für mich ist Schach primär Kunst und Harmonie. Gelegentlich eine akzeptable Partie zu erschaffen, ist für mich vergleichbar mit dem Malen eines Bildes, das künstlerisch befriedigt, oder der Fertigstellung eines guten Artikels.

Vor einigen Tagen wurde ich auf diese Netflix-Miniserie aufmerksam gemacht. Sie sei für mich als „lebenslänglicher Schachspieler“ Plicht.

Zunächst war ich skeptisch, denn viele Filme, die sich mit Schach oder Schachspielern befassen, wurden offensichtlich gänzlich ohne Beratung durch Schachprofis gedreht und entsprechend peinlich sind manche Szenen. Hinzu kommen Klischees in Hülle und Fülle.

Solche Schachfilme wirken dann auf Schachspieler etwa so wie Fußballfilme auf Fußballfans, in denen die Abseitsregel falsch erklärt oder Unfug über Strategie und Taktik erzählt wird.

Dann gibt es Schachfilme, in denen der Schachspieler im Wahnsinn und Untergang endet. Diese Filme leisten ihren traurigen Beitrag zum Irrglauben, dass Topspieler zwangsläufig verrückt werden durch das Spiel – wenn sie es nicht schon immer waren. So manches Elternpaar wird deshalb dem Nachwuchs vom Schachspiel abgeraten haben, obwohl es für das Aneignen kombinatorischer Fähigkeiten, für das Gedächtnistraining und die Visualisierung im inneren geistigen Auge m.E. nichts Besseres gibt. Außerdem ist Schach absolut „gerecht“: wer die wenigsten Fehler macht, gewinnt. Es gibt keine Ausreden, keinen Zufall, kein Glück.

Also schaute ich mir diese Serie an; anfangs mit großer Skepsis.

Von Folge zu Folge wuchs meine Begeisterung. Offensichtlich wurde beim Dreh echter Sachverstand einbezogen. Irgendwo las ich, dass der große Garry Kasparov, Schachweltmeister von 1985 bis 2000 und einer der allergrößten Spieler (neben Bobby Fischer und Paul Morphy), beratend mitgewirkt hatte.

Das würde passen, denn Beth Harmon, die Titelheldin, spielt in seinem stil: aggressiv, taktisch, immer auf den gegnerischen König zielend. Dieser Stil wird beschrieben an einer Stelle, mit dem Hinweis, dass sie Endspiele nicht besonders mag, sondern im Mittelspiel im Angriff gewinnen will. Die Schachszenen deuten eine solche Art des Spielstils an. Es erinnert an Kasparov oder auch an dessen Vorbild, den genialen Russen Alexander Alekhine (Weltmeister von 1927-1935 und 1937-1946, seinem Todesjahr).

Beth Harmon ist ein fiktiver Charakter, ein weiblicher Kasparov oder Alekhine mit den Problemen des letzteren: Alkohol. Alekhine trat in der Tat bei der WM 1935 gegen den Holländer Max Euwe wohl mehrfach betrunken an und verlor den Titel. Mit eiserner Disziplin und dem Alkohol, leider nur zeitweise entsagend, holte er sich den Titel 1937 überzeugend zurück.

Spannend ist die Persönlichkeit des Benny Watts. Benny Watts wurde laut Walter Tevis, dem Autor, der die Buchvorlage zur Serie 1983 schrieb, auf der Grundlage des amerikanischen Schachgenies Bobby Fischer erschaffen. Zumindest las ich das an einer Stelle. Einiges passt zu Fischer: das unglaubliche Naturtalent, der Rückzug aus dem internationalen Schach. Gegen Harmon spielt er mit Schwarz die Najdorf-Variante in der Sizilianischen Eröffnung, Fischers Steckenpferd (und Kasparovs auch). Anderes passt hingegen nicht: Watts ist kein Einzelgänger und unterstützt die Titelheldin. Fischer war völlig ich-bezogen und er gehörte tatsächlich zu den wenigen Topspielern, die wirklich psychisch schwer krank wurden.

Und dann ist da ja noch Vasily Borgov, Harmons Nemesis, dem sie zweimal unterliegt und vor dem sie Angst hat. Bis zum großen Finale…

Schon diese Kleinigkeit am Rande erscheint mir als Übernahme einer realen Situation: bevor Bobby Fischer 1972 den Russen Boris Spassky im WM-Kampf schlug, hatte er vorher drei Partien (1960 in Mar del Plata, 1966 in Santa Monica und 1970 bei der Schach-Olympiade in Siegen/Westfalen) gegen ihn verloren; dazu kamen zwei Unentschieden. Hier gibt es aber einen Unterschied: Fischer hielt sich trotz dieser miserablen Bilanz vor der WM für klar überlegen – und bewies es.

Außerden applaudiert Borgov stehend, als Harmon ihn in der entscheidenden Partie schlägt. Wie Spassky Fischer nach der von Fischer genial geführten 6. Partie (ebenfalls mit dem damengambit eröffnet) 1972 applaudierte.

Beth Harmon hingegen hatte vor dem russischen Weltmeister mit dem Pokerface Angst. Ist dieser also an Spassky angelehnt? Die oben aufgeführten Details sprechen dafür. Auch, dass Spassky ein Schach-Wunderkind war. Nicht aber sein Spilstil. Im Film wird Borgovs Stil als extrem präzise und maschinenhaft beschrieben. Der reale Spassky aber spielte eher wie die fiktive Harmon – auf schnelle Siege im Mittelspiel.

Für Borgovs Stil hingegen ist eher der russische Exweltmeister Anatoly Karpov das Vorbild. Karpov, Weltmeister von 1975 bis 1985, spielte genau so: kühl, präzise und extrem stark im Endspiel. Überlebte er Kasparovs Attacken, schlug er diesen oft im Endspiel danach.

Absolut begeistert bin ich davon, dass die fiktive Entscheidungspartie Harmon (weiß) gegen Borgov (schwarz) sich tatsächlich an eine reale Partie anlehnt! Es ist die Partie V. Ivanchuk gegen P. Wolff, Interzonenturnier Biel 1993! Wow! Borgov macht einen Fehler im 44. Zug, den Wolff nicht machte, und wird vom Brett gefegt. Großartig! Das nenne ich Liebe zum Detail.

Und ja, Harmon spielt in dieser Partie tatsächlich die Eröffnung „Damengambit“, während sie sonst in den gezeigten Partien immer 1.e4 spielt mit Fischers Eröffnungsrepertoire.

Die Partie Harmon – Borgov habe ich – m.E. korrekt – komplett rekonstruiert. In der Wikipedia fand ich, dass sie bis zum 36. Zug einschließlich der Partie V. Ivanchuk – P. Wolff (Biel IZT 1993) folgt:

1.d4 d5 2.c4 dc4: 3. e4 Sc6 4.Le3 Sf6 5.Sc3 e5 6.d5 Se7 6.7c4: Sg6 8.f3 Ld6 9.Dd2 Ld7 10.Sge2 a6 11.Lb3 b5 12.a4 0-0 13.0-0 De7 14.Tac1 Sh5 15.g3 h6 16. Lc2 Tab8 17.ab5: ab5: 18.Ta1 Ta8 19.Ld3 Lb4 20.Ta8: Ta8: 21.Dc2 Lc5 22.Sd1 Ld6 23.Sf2 Shf4 24.Tc1 Dg5 25.Kh1 Dh5 26.Sg1 Sd3: 27.Sd3: f5 28.Sc5 Lc8 29.Tf1 Se7 30.Dd3 fe4: 31.fe4: Dg6 32.Kg2 Kh7 33.Sf3 Sg8 34.Sh4 Dg4 35.Sf5 Sf6 36.h3 Dg6

Ivanchuk setzte nun mit 37.g4 fort, Remis im 72. Zug. Ab hier geht es nun mit Harmon vs. Borgov weiter mit 37.Se6

Die Schlussphase der Partie wird in der Serie nicht in allen Zügen gezeigt, aber wenn diese fehlen, wird die Stellung nach einigen Folgezügen gefilmt. Das kann man gut rekonstruieren. Der Partieverlauf müsste dieser sein:

37. Se6 Ta4 38. b3 Te4: 39. Sd6: Le6: 40. de6: cd6: 41. e7 d5 42. Lc5 De8 43. Df3 Dc6 44. b4 De8 („Borgovs“ spielentscheidender Fehler) 45. Df5+ Kh8 46. Df6: (das zertrümmernde Damenopfer) gf6: 47. Tf6: Dh5 48. Tf8+ Kg7 49. e8D Te2+ 50. Kf1 Dh3+ 51. Ke2: Dg2+ 52. Tf2 De4+ 53. Kd2 Nun folgt Matt in 5. Einfach nur genial. Ich vermute, diese Variante kommt von Kasparov, der ja mitwirkte und 1993 war Ivanchuk ein potenzieller Konkurrent um die WM; so dass Kasparov dessen Partien gründlichst analysiert hat und sicher damals schon diese Variante entdeckte. Bei optimalem Spiel des Schwarzen hält er remis, aber das muss erst mal gesehen werden.

Insofern ist das die mit Abstand beste und anspruchsvollste Darstellung einer Top-Partie, die mir jemal sim TV begegnet ist.

Spannende schachliche Gedanken, die zeigen, wie inspirierend ich diese Miniserie finde.

 

Und das Drumherum? Nun, eigentlich geht es ja um die Person Beth Harmon, aber die schachlichen Aspekte haben mich etwas weggespült…

Ihre absolute Liebe zum Schach wird großartig gespielt und dargestellt. So oder so ähnlich hängen die Großen (und nicht nur die) am königlichen Spiel. Das passt.

Ihre Lebensgeschichte wird emotional bewegend erzählt; das ist sehr dramatisch. Es ist erinnert mich etwas an Alekhine. Bei ihm gab es aber kein Happy End. Er verstarb mutterseelenallein 1946 (geb. 1892) in Portugal; Ursache bis heute unklar.

Kritisch sehe ich die angebliche Wirkung der Tranquilizer auf die visuellen Fähigkeiten Harmons. Ich bin kein Mediziner, aber es würde mich wundern, wenn diese Fähigkeit auf diese Weise verstärkt oder gar erzeugt werden könnte. Meine Vermutung ist eher, dass der Denkprozess dadurch bestenfalls verlangsamt, wahrscheinlicher: chaotisiert, würde. Aber es wird brilliant dargestellt, wirkt überzeugend.

Überhaupt finde ich die schauspielerische Leistung Anya Taylor-Joys fantastisch. Auch Benny Watts und Vasily Borgov werden wirklich überzeugend gespielt.

Und ich war sehr dankbar, dass die Serie mit einem Happy End endet. Und das nicht wegen des Sieges, sondern wegen…schauen Sie selbst!

Insgesamt habe ich diese Serie sehr genossen. Nun ist natürlich die Buchvorlage Pflicht.

Fazit: 5 von 5 Sternen – anschauen, wenn Sie auch nur ein wenig Interesse am Schach haben!