
Ralf´s Reader´s Corner: Epiktets „Handbüchlein der Moral“
„Der Philosoph, der (entlassene) Sklave und der Soldatenkaiser“: So werden sie gelegentlich zusammengeführt genannt, die drei großen Vertreter der späten Stoa: Seneca (etwa 1 n.C. bis 65) Epiktet (etwa 50 bis 138 ) und Marc Aurel (121 bis 180), Sie zu lesen, ist nicht nur ein Genuss, nicht nur wohltuend und beruhigend. Es ist vielmehr auch die Beschäftigung mit einer lebenspraktischen Philosophie, die die eigene Lebensqualität – und damit in der Konsequenz auch die des eigenen Umfelds – deutlich erhöhen kann.
Stoische Philosophie ist seit langem ein Teil meines Lebens im Allgemeinen und meiner täglichen Routine im Besonderen. Jeden Tag versuche ich, mich mindestens etwa zehn Minuten mit ihr zu befassen. Das ist die Pflege der „Rubrik Seele“. Für die „Rubrik Geist“ sind es ebenfalls etwa zehn Minuten Schach und für die „Rubrik „Körper“ weitere zehn Minuten Bauch-, Rücken- und Krafttraining.
Die Auswahl der stoischen Philosophie für die „Rubrik Seele“ war das Ergebnis einer recht intensiven Beschäftigung mit diversen philosophischen Ansätzen.
Aber zurück zur Spätstoa. Wie steigt man in ihr Studium ein? Dazu bieten sich die Bücher von Ryan Holiday an. Insbesondere „Der tägliche Stoiker“ ist mit seiner Vorgehensweise ein guter Begleiter für den täglichen Gebrauch und eine praktische Einführung in den Stoizismus. Vieles an und von ryan Holiday mag man, durchaus zurecht, als „kommerziell“ oder auch „dünn“ kritisieren, aber er hat sich große Verdienste darin erworben, die Stoa zu verbreiten und gut verständlich zu vermitteln.
Aber über kurz oder lang kommt der Punkt, sich mit den wesentlichen Originaltexten zu befassen. Hier erscheinen mir folgende drei ideal:
- Marc Aurel, „Selbstbetrachtungen“
- Seneca, „Von der Seelenruhe“ und „Vom glücklichen Leben“. Beide gibt es in ein Buch integriert
- Epiktet, „Handbüchlein der Moral“
Marc Aurel schrieb sein Buch im Feldlager und es wirkt auf mich wie ein persönlicher Leitfaden auf Basis der Lehren Epiktets. Es ist ein sehr praktisches Buch, das ein exzellenter Begleiter in allen Lebenslagen sein kann. Seneca hat eine sehr elegante Sprache; seine Bücher strahlen Leichtigkeit und Eleganz aus. Epiktet wiederum ist für mich der tiefste und direkteste Denker der drei.
Sein „Handbüchlein der Moral“, das in dieser wunderschönen Ausgabe (Diogenes Deluxe; Kleinformat) auch einige Passagen aus seinen „Diskursen“ enthält und als gute Übersetzung gilt, soll nun in Form einiger besonders prägnanter Zitate vorgestellt werden. Zu beachten ist, dass Epiktet das Buch nicht selbst verfasste. Vielmehr war es sein Schüler Flavius Arrianus, der Epiktets Vorträge lauschte und sie schriftlich niederlegte.
Das Zitat vor dem Vorwort alleine schon lohnt den Kauf: „Seht mich an! Ich habe nicht Weib, Kind, oder Haus, ich habe nur die Erde, den Himmel und einen alten Mantel, und bin ich nicht heiter, bin ich nicht sorglos, bin ich nicht frei?“
Epiktet fasst hier zusammen, wohin die konsequente Anwendung der Stoa in der eigenen Entwicklung führen kann: Heiterkeit – Sorglosigkeit – Freiheit. Wer will nicht so sein? Zugleich räumt bereits dieses erste Zitat mit dem Irrglauben auf, die Stoa forme kalte und und humorlose Menschen. Nein, sie formt positiv denkende Menschen, die jedoch u.a. ein hohes Maß an Selbstdisziplin aufweisen und deswegen fälschlicherweise für „kalt“ gehalten werden.
Das Handbüchlein beginnt mit einem der berühmtesten Postulate Epiktets (S. 13):
- „In unserer Hand steht das Denken, das Handeln, das Verlangen und das Meiden – dies sind also alle Dinge in uns. Nicht in unsere Macht gegeben sind Körper, Besitz, Ansehen und Würden – also alle außer uns.“Er umschreibt diese Aussage an anderer Stelle in Form eines Appells (S. 27):
- „Nur jener ist Herr zu nennen, der die volle Macht hat, zu erreichen und fernzuhalten, was er will. Wer frei sein möchte, soll daher weder erstreben noch vermeiden wollen, was in der Gewalt eines anderen steht: Es sei denn, er möchte sein Sklave werden.“
Diese fundamentale Unterscheidung dessen, was wir steuern können von dem, was wir nicht unter Kontrolle haben, ist eines der zentralen Paradigmen der stoischen Philosophie. Sie zeigt uns unsere Begrenztheit, die Lächerlichkeit vieler Anstrengungen und narzisstischer Illusionen: Macht, Eigentum, Reputation und auch Gesundheit sind flüchtig, nichts ist für die Ewigkeit.
Das hat aber etwas unglaublich Befreiendes: die Stoiker raten, die eigene Energie auf diejenigen Dinge zu verwenden, die wir steuern können – statt sich auf der Jagd nach flüchtigen Dingen buchstäblich zu verbrennen. Fokussierung ist angesagt. Nach einer Selbstdiagnose dessen, was wir kontrollieren können und was nicht.
In der Konsequenz reduziert sich jede vorherige Selbstüberschätzung auf das gesunde Normalmaß, das erst echtes Selbstvertrauen ermöglicht. Ein guter Bekannter von mir, Psychologe, fasst es in einem Satz zusammen: „Nimm dich nicht so wichtig.“
Epiktet drückt es so aus (S. 30):
- Du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Dichter bestimmt. Du musst sie spielen, ob sie lang oder kurz ist.“
Und (S. 30):
- „Deine Aufgabe ist nur, die zugeteilte Rolle gut zu spielen.“
Fundamental berührt hat mich auch seine Aussage zur Angst. Angst bewegt uns alle. Epiktet nimmt der Angst die Bedrohlichkeit (S. 18):
- „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellung von den Dingen.“
Die Dinge sind wie sie sind; es liegt nicht an uns, sie zu kontrollieren. Aber wir können unsere Haltung zu ihnen kontrollieren und damit die Angst überwinden. Eine grandiose, befreiende Sichtweise und Empfehlung.
Er ergänzt dieses Thema an anderer Stelle (S. 25):
- „Besser du hungerst und bist frei von Furcht und Sorge, als du schlemmst und bist gequält von beidem.“
Die Konzentration auf Dinge, die wir kontrollieren können und die Überwindung der Angst führt laut Epiktet zu wahrer Freiheit.
Die vier stoischen Tugenden (Selbstdisziplin/Mut/Weisheit/Gerechtigkeit), m.W. auf Musonius Rufus zurückgehend, sind das Ziel solcher derart innerlich freier und furchtloser Menschen. Insbesondere zur Selbstdisziplin schreibt Epiktet im Handbüchlein einiges (S. 53):
- „Bilde klar einen Charakter und eine Haltung in dir aus, die du stets behältst, ob du allein bist oder unter anderen.“
- „Schweige zumeist.“ Für wen ist das nicht gelegentlich eine Herausforderung?
- „Lass vor allem Abwesende, willst du nun tadeln, loben oder vergleichen.“
- „Wo immer du kannst, trachte das Gespräch auf Wertvolles zu bringen.“
Hohe Ansprüche, aber ein lohnender Weg. Das nächste Zitat hat etwas geradezu Calvinistisches:
- „Lache nur selten, und dann beherrscht.“ Na ja, man muss nicht alles befolgen, was die Stoa empfiehlt. 🙂
A propos Calvinismus: Es gibt die Position, dass der Calvinismus, auch die Moralphilosophie des Adam Smith (der nicht nur ein brillanter Ökonom war), stark auf der Stoa fußen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Zu den Genüssen des Lebens schreibt Epiktet Bedenkenswertes, dessen Befolgung so manches Drama im Leben verhindern kann (s. 57):
- „Bewegt dich sinnliches Verlangen, so achte, wie bei anderen Vorstellungen, dass es dicht nicht mitreißt. Nimm dir Zeit und gewinne einen Aufschub!“Lehrreich. Hilfreich. Klare Empfehlung für das ganze Leben. Denn es gilt:
- „…denke an zwei Dinge: an die Augenblicke des Genusses und an die Last der Reue.“ Wie wahr.
Und das ist eben nicht lebens- oder lustfeindlich. Die Stoa fordert lediglich dazu auf, die Prozesse zu Ende zu denken und dann erst zu entscheiden. Und dann erst zu handeln. Sie befähigt dazu, so manch böses Erwachen zu vermeiden im Leben. Das meine ich mit der lebenspraktischen Art der Stoa. Es gibt so mach brillante Philosophie, aber diese sind oft nicht hilfreich für das eigene Tun und Handeln.
Die Stoiker halten uns, milde und wohlwollend, einen Spiegel vor. Wir entscheiden, was wir daraus machen – oder auch nicht.
Auch mit dem Körperkult räumt Epiktet auf (S. 63):
- „Es zeigt wenig Sinn für Strebsamkeit, wenn du dich mehr dem Körper widmest, als es nötig ist.“In der Konsequenz:
- „Dein Wesen richte sich auf das Geistige.“
Damit ist aber bei den Spätstoikern nicht gemeint, dass man sich gehen lässt. Diogenes, angeblich in einem Fass lebend, ist nicht das Idealbild der Stoa. Sie lehnt Genuss nicht ab, empfiehlt aber dringend das Durchdenken der Konsequenzen als ersten Schritt. Dann entscheiden. Dann erst handeln.
Der Schlussteil des Handbüchleins fasst zusammen, wie denn der Philosoph stoischer Prägung beschaffen sein soll (s. 68):
- „Bezeichne dich nicht als Philosophen, sprich nicht viel von Lehren, sondern handle danach!“
Und weiter (S. 70):
- „Der Ungebildete erwartet Nutzen oder Schaden nicht von sich, sondern von äußeren Ereignissen. Der Philosoph erwartet alles nur von sich.“
- „Der in der Bildung Reifere […] redet nicht von sich, als gelte oder wisse er etwas.“
Schöne, lehrreiche Worte.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Das Buch ist eine Fundgrube der Weisheit und natürlich gilt:
Fazit: 5/5 Sternen
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