24. Dezember 2019 Allgemein, Philosophie

Ralf´s Reader´s Corner: „Luft nach oben“ (2017) von Dr. Nicolas Dierks

Auf Herrn Dierks stieß ich via twitter; dort ist er recht aktiv. Jeden Morgen begrüßt er alle mit einem höflichen „Guten Morgen!“ und berichtet häufig über Dinge, die er tut oder plant. Aktuell live von der Erstellung seines nächsten Buches. Natürlich geht es um Vermarktung, aber er macht das nicht unsympathisch oder aufdringlich. Außerdem wird schnell klar, dass er etwas zu sagen hat und man von ihm viel lernen kann.

Wir kamen dort ein wenig ins Gespräch und das machte mich darauf neugierig, wie er schreibt.

Philosophie liebe ich, insbesondere die Stoiker, aber auch die Aufklärer sowie insbesondere Popper.

Aber worüber denken und schreiben moderne Philosophen? Das herauszufinden, ist eine interessante Beschäftigung.

Ich suchte mir dann Dierks´Buch „Luft nach oben – Philosophische Strategien für ein besseres Leben“ aus.

Der Untertitel gefiel mir anfangs nicht besonders, „Strategien für en besseres Leben“ klingt mir etwas reißerisch und beliebig, nach einem Ratgeber, der alles beantwortet. Davon hat die Welt schon (mehr als) genug.

Einen ähnlichen Kritikpunkt am Untertitel eines Buches hatte ich schon einmal, ich glaube, bei Daniel Stelter.

Aber so wie das dort unberechtigt war – Stelter schreibt fundiert und gut – so ist es auch hier bei N. Dierks. Das Buch ist gut, wirklich lesenswert. Letztlich geht es eben auch um die Vermarktung der Bücher, um Einkommen für die Autoren. Und dann darf, ja muss der Titel eben auch neugierig machen und Emotionen wecken.

Aber der Reihe nach.

Der Autor will zwei Dinge miteinnader verbinden: der Leserschaft bei der Suche nach Lebenszufriedenheit unterstützen und ihr Philosophie näher bringen. Dierks hat den Anspruch, dass die Leserschaft eben gerade aufgrund der Integration philosophischer Gedanken in ihr Leben im Alltag, aber auch bei der Beantwortung ihrer grundlegenden Fragen, Fortschritte machen können.

Philosophie als wichtiges Werkzeug für Lebenszufriedenheit, darum geht es.

Das erste Zitat, das der Autor verwendet, hat er gewiss mit einem Augenzwinkern gesetzt: „Starte irgendwo und werde von dort aus immer besser.“ Das Zitat ist von Douglas Adams, dem Verfasser der köstlichen vierbändigen SciFi-Trilogie „Per Anhalter durch die Galaxis.“ Ich musste laut lachen. Ein philosophisches Buch beginnt ausgerechnet mit Douglas Adams!

Nun war klar – das Buch MUSS einfach gelesen werden! Denn irgendwie ging mir ab diesem Zitat die Zahl 42 nicht mehr aus dem Kopf. 😉

Aber vielleicht ist Douglas Adams wirklich als Philosoph zu bertrachten, wie so viele gute Satiriker, die uns immer wieder den Spiegel vorhalten und uns auf unsere Kleinheit zurück werfen.

Dierks geht es darum, die „praktische Seite der Philosophie“ heraus zu arbeiten, um mit ihrer Hilfe den Menschen Denkanstöße für eine bessere Lebensführung zu vermitteln.

Das umschreibt er sehr schön: „Mein zentrales Anliegen ist es, Menschen dabei zu helfen, sich zu transformieren – Durchbrüche zu schaffen, den Mut nicht zu verlieren, persönlich zu wachsen und dadurch ihrer Vorstellung eines guten Lebens näherzukommen.“

Ein sehr lobenswerter, humanistischer Ansatz: Befreiung der Philosophie aus dem Elfenbeinturm, Verzicht auf ihre Fachsprache, um sie verständlich vermitteln zu können. Das hat etwas, das ist etwas Gutes.

Um die Leserschaft abzuholen, beginnt er mit einem persönlichen Beispiel, einem Erlebnis, das ihn mit Heraklits „Panta rhei“ (alles fließt) in Verbindung brachte.

Im Folgebeipisel, erneut einem persönlichen, nähert Dierks sich der spannenden Thematik, ob denn nur das „Hier und Jetzt“ entscheidend ist, ob das genügt. Sehr kritisch arbeitet er sich durch eine rigorose Interpretation – das Auslassen von erinnerungen und Gedanken über die Zukunft – dieser oft als glücklich machenden gepriesenen Haltung hindurch und kommt zu der erschütternden Erkenntnis, wie verengend diese Sicht ist – er vergleicht sie mit der Sicht eines dementen Menschen.

Statdessen entwickelt er eine differenzierte Definition des „Hier und Jetzt“, die Erinnerungen ebenso wie Gedanken an die Zukunft sehr wohl integriert. Letztlich zeigt sich, dass es keine einheitliche Definition davon gibt, aber eine Grundhaltung dazu: Es ist eine „Form des guten Lebens,“ etwas offensichtlich seit Urzeiten von den Menschen für erstrebenswert Erachtetes.

Die Fähigkeit des Menschen, sich in Gedanken aus dem konkreten Hier und Jetzt in beide Zeitrichtungen zu entfernen, aber bei Bedarf diese mit der aktuellen Situation zu verbinden – das ist für den Autor ein fundamentaler Unterschied zur Tierwelt und auch die Tür, die zu einem sinnerfüllten Leben über den Weg der Einsichten führt. Dierks nennt diese spezifisch menschliche Fähigkeit „situationsunabhängiges Denken“.

Dieser erste Teil des Buches, das Kapitel I, ist phasenweise etwas zäh und ausschweifend erzählt. Aber der Autor will damit offensichtlich ein ebenso breites wie tiefes Fundament legen, damit die Leserschaft gut vorbereitet fortschreiten kann.

Im Kapitel II findet sich ein wunderbares Zitat, zugleich eine au smeiner Sicht perfekte Definition der Mission, die der autor mit diesem Buch verfolgt: „Philosophie soll unsere Gedanken klären und uns von Annahmen heilen, die uns hemmen oder schaden.“

Oder auch: „Zweifel ist wichtig, aber wir müssen den Zweifel sinnvoll begrenzen.“

Diese Sätze klingen nebenbei wie zentrale Paradigmen eier intelligenten Burnout-Prävention. Beeindruckend.

Im weiteren Verlauf werden Arbeitsdefinition solcher fundamentalen Begriffe wie „Wissen“ und „Selbsterkenntnis“ geliefert, die ich sehr aufschlussreich finde:

„Selbsterkenntnis können wir als die Fähigkeit verstehen, Tatsachen über sich selbst herauszufinden und sich von ihnen leiten zu lassen.“

Ganz exzellent. Man kann auch sagen:

„Entwickle Dein Selbstbild, indem Du Dir Fakten zu Dir verschaffst und nicht Deinem inneren Wahrnehmungsapparat blind vertraust!“

Wieder der Spiegel, den wir brauchen, um zu wachsen.

Damit gelangt Dierks zu einer Arbeitsdefinition einer Antwort auf die uralte Frage „Wer bin ich (wirklich)?“

Seine Antwort: „… dann wollen wir wissen, welche Tatsachen auf uns zutreffen, um uns nach ihnen richten zu können.“

Sehr spannend ist auch seine Auseinandersetzung mit dem Thema „Willenskraft“. Dieser gemeinhin rein positiv belegte Begriff hat auch Schattenseiten, z.B. mögliche Sabotagen der objektiven Selbsterkenntnis. darüber hatte ich vor dem Lesen dieses Buches so noch nicht nachgedacht.

Die folgende Zusammenfassung finde ich dazu für mich besonders lehrreich:

„Wenn wir also unser Leben gestalten wollen, heißt das nicht, mit Hilfe einer ausgeprägten Willenskraft einen endlosen Schub von Aktivität zu entfalten. Vielmehr kommt es auf das richtige Verständnis von aktivem, passivem und unbeteiligtem Verhalten an.“

Großartig! Hier wird die Problematik des Hamsterrads, des „Mehr von Demselben“ (Watzlawick) wunderbar klar analysiert und im Ergebnis steht eine klare Leitlinie für ein zufriedenes Leben.

Im weiteren Verlauf wird der Begriff der „Freiheit“ und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten der Manipulation und Irreführung eingehend besprochen. Der Autor beschreibt, wie Menschen durch gezielte Manipulation zu einem egoistischen, letztlich amoralischen Freiheitsbegriff geführt werden können, der im wahrtsen Sinne des Wortes anti-sozial ist:

„Das Perfide ist hier, dass meine eigene moralische Stimme zum sozialen Zwang erklärt wird. Ich soll vergessen, wie wichtig mir die anderen sind, und meine Gedanken an sie als Beeinflussung von außen ansehen. Und der Manipulator gibt sich als Retter, der meine angebliche Unwissenheit beseitigt.“

Diese Synthese hat mich sehr nachdenklich gemacht. Wer ist in diese Falle noch nicht geraten? das Ausspielen des eigenen Freiheitsdranges gegen das eigene Gewissen, um dieses auszuschalten? Ganz übel. Sehr real.

Freiheit im positiven Sinne, in Übereinstimmung mit den inneren werten, umschreibt Dierks so: „Wer auch immer wir sind, es liegt an uns zu entscheiden, wer wir werden.“

Klare Aussage: es gibt keine Entschuldigung dafür, eine unbefriedigende Its-Situation linear fortzuschreiben und andere dafür verantwortlich zu machen.

Danach traut sich der Autor an die fundamentale Farge nach dem Sinn des Lebens heran. Er erläutert, warum diese Frage schlicht und ergreifend nicht zielführend ist, da zu mächtig und nicht klar beantwortbar.

Als praktische Lösung empfiehlt er stattdessen, sie durch die Frage danach zu ersetzen: „Was ist mir wichtig?“ Diese ist für ihn beantwortbar und damit geht es im Leben zielführend weiter. Erneut eine aus meiner Sicht großartige Lebenshilfe, wie so vieles in diesem Buch.

Den höchsten Grad der Wichtigkeit und damit dem „Sinn des Lebens“ nahekommend, haben laut Dierks Themen, für die gilt: „Es ist mir so wichtig, dass ich mich darum kümmern muss.“

Über diese Brücke der Wichtigkeit verbindet Dierks im Folgenden die manchmal als gegensätzlich angesehenen Begriffe „Liebe“ und „Vernunft“. Er zeigt auf, dass wir, wenn wir uns um die uns wichtigsten Dinge – z.B. Menschen, die wir lieben – kümmern, wir dies aber bewusst vernünftig tun, um das Ziel des Kümmerns zu erreichen. Diese Thematik fasst er so zusammen:

„Die Fähigkeiten des Liebens und der Vernunft können ungleich entwickelt sein. Das heißt aber weder, dass „Herzensmenschen“ unvernünftig sind, noch dass „Vernunftmenschen“ nicht aus Liebe handeln. Beides gemeinsam führt zu vernünftigem Handeln aus Liebe.“

Großes Kino, finde ich.

In der Konsequenz gelangt Dierks zu einem Imperativ: „Wir sollten uns nicht um etwas Sorgen machen und grübeln. Wir müssen für etwas sorgen und tätig werden.“ Goethes Aufforderung, ins Tun zu gelangen. Grübeln hilft keinem.

Die nächste Implikation au sdieser Gedankenkette ist dann die Definitionen dessen, was „richtig“ ist: „Das, womit wir am besten dafür sorgen, dass das Wichtige geschieht. Eine brillante Kadenz.

Dieser Teil des Buches ist einfach nur großartig.

Daran schließt sich der besonders spannende Begriff der „Autonomie“ an. Ist das nun das Recht, jederzeit alles zu tun, was man gerade will? Eben nicht! Der Autor arbeitet heraus, dass echte Autonomie etwas völlig Anderes als seelenloser Egoismus ist:

„Was auch immer wir als das einsehen, was zu tun ist, es muss für uns im Leben Priorität haben – als freiwillige Pflicht. Aber begreifen wir dies nicht als Beschränkung, sondern als Ausübung unserer Freiheit als Autonomie.“

Diese Thematik ist für mich eine der allerwichtigsten des Buches: Autonomie heißt eben nicht, jedem Impuls nachzugeben, hedonistisch dem Egoismus zu frönen („wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“). Es bedeutet vielmehr, uns – wenn wir die für uns wichtigen Dinge im Leben definiert haben – nicht durch externe Impulse oder Manipulationen vom Weg abbringen zu lassen.

Später stellt Dierks die Sicht der Stoiker der des Aristoteles gegenüber. Eine besonders spannende Auseinandersetzung. Dierks fasst die Standpunkte wie folgt zusammen: die Stoiker ziehen sich, um nicht verletzt zu werden, um nichts zu verlieren, aus dem Leben in die innere Burg zurück.

Aristoteles hingegen fordert dazu auf, nicht nur diesen Kokon zu wählen, sondern die Verletztlichkeit einer aktiven Teilnahme am Leben vorzuziehen. Nur so gibt es Entwicklung, nur so kann es besser werden auf dieser Welt.

Arbeitsauftrag an mich selbst: lies die „Nikomaische Ethik“ demnächst. Bisher war ich doch sehr Stoiker-lastig unterwegs.

Im weiteren Verlauf führt der Autor zu den Fähigkeiten, die man braucht, um sich im Sinne des Aristoteles zu entwickeln. Er kondensiert diese in vier:

  1. Praktische Vernunft/Klugheit,
  2. Gesundheit,
  3. Emotionen,
  4. Gemeinschaftlichkeit.

Die tiefe Erörterung dieser vier Kernkompetenzen für ein gutes Leben bildet den zweiten Teil des Buches, gefolgt von konkreten Umsetzungsstrategien bi shin zum Rückfallmanagement. Dieser zweite Teil ist somit der eigentliche Praxisratgeber für ein besseres Leben, der in der ersten Hälfte tiefgründig philosophisch hergeleitet und begründet wurde.

Ein hervorragendes Konzept – ein hervorragendes Buch!

Fazit: 5 von 5 Sternen.