15. April 2018 Politik und Gesellschaft

Ralf´s Reader´s Corner: „Europadämmerung – ein Essay“ (2017) , von Ivan Krastev

Dieses Buch hat mir ein Freund geschenkt. Seine Worte waren: „Das liest Du an einem Wochenende durch, aber es wird Deine Sicht auf das Thema Europa massiv beeinflussen und erweitern.“

Genau so ist es: die nur gut 130 Seiten lassen sich zügig lesen. Das liegt auch daran, dass Professor Krastev  sein profundes Wissen in eine höchst elegante und doch prägnante Sprache kleidet.

Wer ist Ivan Krastev? Das musste ich mir im Internet suchen. Er ist ein bulgarischer Politologe und Politikberater, in der Wissenschaft tätig, aber schreibt auch viel für renommierte Zeitungen und Journale.

Worum geht es in diesem Büchlein: um den Zustand Europas und seine aktuelle zentrale Herausforderung – die Flüchtlingskrise.

Warum finde ich es so wertvoll und für jeden, den das Thema Europa interessiert, ein must-read? Weil es der eigenen, typisch westeuropäischen,  Sicht auf dieses Thema eine entscheidende Dimension hinzufügt: die Sicht der Mittel- und Osteuropäer.

Eine Sicht, die, wie mir beim Lesen deutlich wurde, wir Westeuropäer typischerweise gar nicht oder doch viel zu wenig im Blick haben.

Warum das so schlecht oder gar gefährlich ist? Weil die Mittel- und Osteuropäer eine völlig andere Sicht auf dieses Thema haben und wir alle Europa verlieren könnten, wenn wir Westeuropäer weiterhin mit der moralischen Keule – oder gar der finanziellen – auf unsere Nachbarn und Freunde in Mittel- und Osteuropa einprügeln.

Wenn wir tatsächlich die Zahlung von EU-Geldern an diese Länder davon abhängig machen, dass sie sich der westeuropäischen Sicht auf das Thema Integration von Flüchtlingen beugen, kann das der finale Sprengsatz an den Grundmauern der EU werden. Dann werden insbesondere wir Deutsche wieder so hehasst wie schon einmal: „Früher machten sie es militärisch, jetzt erpressen Sie uns und verlangen die Übernahme ihrer Werte.“

Aber der Reihe nach: wie beschreibt Krastev die Sicht der anderen?

Zunächst einmal: er tut es höchst wissenschaftlich, neutral, sachlich und höchst profund. Der Mann weiß, worüber er schreibt. Das ist ein intellektueller Genuss.

In der Sache kann man seine Kernaussagen in einigen Punkte komprimiert zusammen fassen:

  • Die politischen Führungen und ihre Völker gleichermaßen verlieren den Glauben an das Projekt Europa. Zusätzlich entfernen sich Volk und Elite voneinander.
  • Die Idee (Fukuyama, 1989) , dass die Welt sich in eine wandelt, die vom westlichen Modell geprägt ist (liberale Demokratie plus Marktwirtschaft) ist tot – sie war eine Illusion. Vielmehr existiert dieses Modell zunehmend nur noch in Westeuropa.
  • Viele Bürger der EU, und es werden immer mehr, verachten das Konstrukt EU und die dieses Konstrukt tragenden Eliten. Krastev betrachtet diese funktionalen europäischen Eliten als von ihren Völkern abgewandte und losgelöste Söldner.
  • Die Flüchtlingskrise ist eine Revolution. Und Revolutionen erzeugen Gegenrevolutionen. Konkret erheben sich nun in den europäischen Staaten die sich bedroht fühlenden Mehrheiten.
  • Diese Krise ist die erste und einzige, der er das Potenzial zubilligt, die EU sprengen zu können. Sie ist für ihn das 9/11 – Erlebnis Europas.
  • Die deutsche Politik betrachtet er sehr kritisch als den Versuch, sich von der Geschichte durch moralische Selbsterhöhung reinzuwaschen.
  • Und er erklärt anhand der Geschichte der mittel- und osteuropäischen Länder, warum diese auf Flüchtlinge so reagieren, wie sie es tun.
  • Letztlich sieht er die einzige Chance für Europa in einer Gruppe befreundeter Nationalstaaten – nicht in einer engeren Union, wie sie z.B. Macron anstrebt.

Dieses Buch hat mich sehr nachdenklich gemacht und mein Verständnis für unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn massiv erhöht. natürlich muss man nicht alle Positionen teilen, aber es ist definitiv eine große Wissenslücke, sie nicht zu kennen.

 

Fazit: 5/5 Sternen – unbedingt lesen, wenn Sie sich für Europa interessieren!